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Hinweisgeberschutz und der Schutz vor falschen Verdächtigungen

Aufgrund der EU-Whistleblower-Richtlinie und deren deutsche Umsetzung mit dem Hinweisgeberschutzgesetz müssen Unternehmen größer 49 Mitarbeiter ein internes Meldesystem einführen. Eine ähnliche Regelung gilt für öffentliche Einrichtungen.

Gerade Deutsche haben Vorbehalte. Viele fürchten eine Denunziationskultur, besonders durch anonyme Hinweise. Hinweisgebersysteme mit anonymer Meldefunktion stehen am Markt in Form digitaler Systeme zur Verfügung. Sie sind nicht nur State of the Art, sondern werden auch von den Regulierern bevorzugt. Missstände können über eine Eingabemaske anonym gemeldet werden. Außerdem vereinfachen digitale Hinweisgebersystem die Auswertung von Meldungen, vor allem, wenn Vorwürfe mit großen Datensätzen unterfüttert werden. Anschließend ist das Unternehmen verpflichtet, die Meldung zu bearbeiten und dem Hinweisgeber zeitnah zu kommunizieren, wie es mit der Meldung umgeht. Nur so kann einer weiteren Eskalation vorgebeugt werden. Typisch ist der Vorbehalt, solche Systeme könnten missbraucht werden. Wie also lässt sich eine Denunziationskultur vermieden?

Zunächst einmal sollte niemand die Bedenken um Missbrauch von Meldesystemen einfach wegwischen. Deutschland hat schreckliche Erfahrungen mit totalitären Diktaturen gemacht. Eine davon hat erst 1989 aufgehört zu bestehen. Vielen ist noch in guter Erinnerung, wie die SED durch ein Netz informeller Mitarbeiter die eigenen Bürger ausspioniert hat und wie sich Kollegen wechselseitig bezichtigt haben. Auch wenn dies „nur“ die 17 Millionen DDR-Bürger betroffen hat, darf nicht übersehen werden, dass die SED-Erfahrung in die gesamtdeutsche Erinnerungskultur Eingang gefunden hat. Diese Negativwirkung wurde und wird durch die Erinnerung an die NS-Diktatur verstärkt. Historische Erfahrungen sind auch in der Gegenwart wirkmächtig – obwohl die Mehrheit der Deutschen gerade keine Erfahrung mit Denunziantentum hat.

Allerdings ist die Gefahr einer Denunziationskultur sogleich ins rechte Verhältnis zu setzen. Hinweisgebersysteme werden nicht erst in diesen Jahren eingeführt. Viele Unternehmen in Deutschland und der Welt haben seit vielen Jahren anonyme Meldekanäle. Ganz überwiegend sind die Meldungen relevant. Nur ganz wenige sind eindeutig missbräuchlich. Laut dem Whistleblowing Report 2019, den die EQS Group in München mit der Hochschule Graubünden veröffentlicht hat, sind dies in Deutschland gerade einmal knapp zwölf Prozent. Nicht jede dieser missbräuchlichen Meldungen muss das Betriebsklima vergiften. Womöglich sind missbräuchliche Meldungen gar ein Indiz für ein vergiftetes Betriebsklima. Jedenfalls: Meldungen, die der Urheber nur zur Äußerung von Frust macht, lassen sich oft als solche vom zuständigen Fallbearbeiter erkennen und ad acta legen. Die meisten Hinweise werden also zumindest in guter Absicht gegeben.

Um missbräuchliche Meldungen zu verhindern, muss das Unternehmen die Prüfung von Missständen vorbehaltlos, schnell und mit nachvollziehbaren Ergebnissen vornehmen. Die Beweislagenprüfung muss das Unternehmen anhand akzeptierter Standards durchführen. Wenn Beweise fehlen oder mangelhaft sind, müssen Hinweisgeber aufgefordert werden, entsprechend nachzuliefern. Geschieht dies nicht, muss das Unternehmen den betreffenden Mitarbeiter von den Vorwürfen freisprechen und eine Rehabilitation ernsthaft und glaubhaft anstreben. Institutionen, die dies nicht tun, verlieren an Glaubwürdigkeit. Es ist auch eine Form von Compliance, wenn das Unternehmen die Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates anwendet. Darum müssen Compliancebeauftragte die Untersuchungen diskret durchführen und die vermeintlichen Missstandsurheber von den Ermittlungen in Kenntnis zu setzen. Die Unschuldsvermutung gilt auch für Beschuldigte, denen Delikte wie sexuelle Belästigung oder Rassismus vorgeworfen werden. Immer wieder entsteht der Eindruck, dass durchaus nicht jeder, der mit solchen Vorwürfen konfrontiert wird, auch eine faire Behandlung erfährt. Kommt es zu Vorverurteilungen und lassen sich die Complianceverantwortlichen nur von vermeintlichen Beweisen leiten, so ist dies geradezu eine Einladung zum Denunziantentum.

Auch die Rede von der Zero-Tolerance-Kultur führt mitunter in die Irre. Null Toleranz gegenüber Missständen mag richtig sein, wenn es um die Bereitschaft geht, diese abzustellen. Eine schwere Sanktion gegen den Urheber des Missstandes ist jedoch bei weitem nicht in jedem Fall angemessen. Das Unternehmen muss die Sanktion nach der Motivation und dem Umfang des Missstandes bemessen. Entsprechend ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anzuwenden. Wo dies nicht geschieht, wird eine billige Moralisierung ermöglicht: es wird unverhältnismäßig und unzutreffend geurteilt. Dann schlägt die Stunde der Denunzianten: Unliebsame Kollegen und Chefs können mit aufgebauschten Vorwürfen marginalisiert und aus der Organisation gedrängt werden.

Außerdem sind Schulungen des Personals hochbedeutsam und ein Standardwerkzeug der Compliance. Schulungen sollten klar machen, wozu das Hinweisgebersystem dient: Welche Ethik gebietet seine konkrete Nutzung? Was genau darf man und was nicht? Wie sind Falschbeschuldigungen zu werten? Wie wird mit Meldungen korrekt umgegangen? Und welche Abwägungskalküle stecken hinter der Beurteilung von Beweislage und der Schwere der Vorwerfbarkeit einer Missstandsurheberschaft? Zur Verbreitung all dieser ethischen Abwägungen gibt es bewährte didaktische Mittel. Entsprechende Schulungen müssen darum nicht langweilig sein. Sie können zum Beispiel mit entsprechenden E-Learning-Angeboten informativ und interaktiv digital durchgeführt werden. In jedem Fall sollten sie regelmäßig stattfinden. Implizit leisten solche Compliance-Schulungen auch einen Beitrag zur Verbesserung der Unternehmenskultur, denn: Sie bestärken Mitarbeiter darin, moralisch zu handeln, zu bewerten und abzuwägen.

Gute Vorbilder und die transparente Dokumentation auch irriger oder vorsätzlich falscher Hinweise sind unverzichtbar. Ein besonnener und wahrhaftiger Umgang mit den Vorwürfen im Unternehmen erfordert viel Fingerspitzengefühl, nicht nur für die involvierten Personen und die Organisationskultur, sondern auch für den Umgang mit bewährten Beurteilungsprinzipien: Das gilt besonders für die Unschuldsvermutung, die Einschätzung der Beweislage sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Ein integres Unternehmen sollte in der Lage sein, nicht nur Hinweisgeber zu schützen, sondern auch Denunziantenverhalten, Bezichtigungen, Spitzelei und grob fahrlässige oder absichtliche Rufschädigungen als das auszuweisen, was sie sind: Ein schwerer Verstoß gegen eine gute Unternehmenskultur – und damit selbst ein kritikwürdiger Missstand.